Seit den 1990er Jahren existieren in pädagogischen Kreisen und weit darüber hinaus viele Neuromythen. Damit sind Lernvorstellungen gemeint, die plausibel und einfach verständlich sind. Diese Geschichten entsprechen nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Neurologie.
Beispiele: Lerne ich im Schlaf? Nein, aber das Gehirn ordnet in der Nacht die während des Tages aufgenommenen Informationen. Nutzt der Mensch nur 10% seines Gehirns? Auch diese Vorstellung ist falsch, das Gehirn nutzt alle seine Bereiche. Lernen wir mit der linken Hirnhälfte rational, analytisch und verbal? Mit der rechten Hirnhälfte intuitiv, nichtverbal und kreativ? Es gibt zwar Vorlieben für einzelne Lernmethoden („Kopf – Hand- Herz“ Ansätze nach Pestalozzi). Wir brauchen jedoch immer das ganze Gehirn und verschiedene Zugänge zum Lernen.
Von den USA bis China stimmen jedoch viele Pädagogikfachleute dem Lerntypenmythos zu. Dieser Ansatz hilft den komplexen Prozess des individuellen Lernens mit einfachen Lösungen didaktisch zu bewältigen. Fehlinformationen haben auch dann einen anhaltenden Einfluss auf das Erleben und Verhalten, wenn sie längst durch Gegenargumente widerlegt wurden.
Beliebt war weitweit – auch bei mir… – die Lerntypen-Hypothese: Menschen würden sich durch ihren visuellen (Auge), auditorischen (Ohren) und kinästherischen Vorlieben (Bewegungsempfindung) bei der Informationsaufnahme unterscheiden. Das konnte in Studien nicht nachgewiesen werden. Einfachen Testverfahren halten den Qualitätsstandards für psychologische Testverfahren nicht Stand. Das Gehirn arbeitet selbständig und komplex mit all seinen Arealen zusammen. Das habe ich bei Bekannten mit Hirnverletzungen (Hirnschläge, Hirntumore etc.) verfolgen können. Die Regenerationsfähigkeit und Anpassung der Hirnleistungen sind wirklich gross. Die didaktisch umgesetze „Lerntypenvielfalt“ (eigentlich Vielfältigkeit der Unterrichtsmethoden) muss immer wieder hinterfragt und angepasst werden. Gerade auch in Zeiten des digitalisierten Lehr- und Arbeitsumfeldes. Grundsätzlich gehört ein inhaltsbezogenes Repertoire an Methoden zum Unterricht. Es muss ein Mittelweg zwischen Instruktion und Individualisierung gefunden werden, nicht ganz einfach.
Somit können wir zusammenfassen, dass die einfach gestrickten Neuromythen einen praxisbezogenen Kern enthalten : Es braucht einen interessanten Mix von analogen und digitalen Methoden, damit die Lernenden im Unterricht präsent bleiben und Inhalte aufnehmen. Lernen geht allerdings über das Merken hinaus. Das Verstehen von Bedeutungen, das Erfassen von Sinn und das Lösen von Problemen gehören zum Lernen.Der hohe Stellenwert von (Selbst) Lernfähigkeiten und Lernbedingungen wurde in der Corona Pandemie deutlich. Dabei braucht es immer wieder Reflexion zum eigenen Verhalten und ständige Anpassungen. Über alle Berufe und Altersgruppen hinweg ist Lernen wichtig, um neue Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Der Alltag gibt uns genügend Möglichkeiten dazu.
Neuromythos „Lerntypen“ immer noch in einem Geo-Heft veröffentlicht:
https://www.geo.de/geolino/mensch/5849-rtkl-lernen-welcher-lerntyp-bist-du
Interne links: Wir sind was wir erinnern
https://muellerkaelin.ch/wp-admin/post.php?post=8087&action=edit